Konzept
Kirche der Bücher
Ein kleines Dorf hat begriffen, dass sich die spirituelle Landschaft in unserer Zeit verändert – und macht sich auf den Weg:
Der regelmäßige Gottesdienst ist nicht mehr die zentrale kirchliche Lebensäußerung in Gewissenruh; stattdessen lädt die Gemeinde einmal im Monat ein zu `Lesungen mit Musik´ in verschiedenen Veranstaltungsformaten.
Das Konzept der `Kirche der Bücher´ bedeutet eine grundlegende Umformatierung des kirchlichen Lebens einer Gemeinde im ländlichen Raum. Die Entscheidung zu dieser „Operation am offenen Herzen christlicher Spiritualität“ traf der Kirchenvorstand der kleinen Gemeinde 2022 anlässlich des 300. Jubiläum der Dorfgründung.
Die literarischen Veranstaltungen verhalten sich komplementär zu den Aktivitäten der umliegenden Gemeinden, in denen weiterhin traditionelle Gottesdienste stattfinden. Wenn in sieben Kirchen der Kommune Wesertal der herkömmliche Gottesdienst gepflegt wird, meinen wir, dass in der achten auch ein anderer Weg beschritten werden kann. Mit dem gleichen Ziel: Menschen über sich hinaus zu führen – ins Weite.
Weil es verschiedene Wege gibt, auf denen Menschen nach dem wahren Leben suchen. Und weil verschiedene Menschen für Verschiedenes offen sind. Und weil der Geist, weht wo er will.
Die Bibel und die Bücher
Im Mittelunkt evangelischer Kirchen liegt seit jeher selbstverständlich das „Buch der Bücher“. Die Bibel ist an sich schon eine Bibliothek mit Schriften, die über einen Zeitraum von rund 1000 Jahren entstanden sind. In den folgenden mehr als 1000 Jahren wurde die christliche Bibel zu „der“ kulturprägenden Grundlage Europas.
In den letzten 700 Jahren hat sich die Literatur dann aber vom Korsett kirchlichen Bevormundung befreit und im Gefolge von Renaissance und Aufklärung zunehmend selbständig entwickelt.
Wie der Heilige Geist sich nicht in Kirchenmauern einfangen lässt, gibt es Bücher, die diesen Geist besser zuweilen ausdrücken als manche Predigt. Und dabei sind durchaus auch Bücher mitgemeint, die überhaupt keinen kirchlichen, christlichen, religiösen oder spirituellen Bezug haben – und trotzdem anregende Gedanken und heilsame Sichtweisen in die Welt tragen.
Die „Kirche der Bücher“ will sich dieser Weite bewusst öffnen. Wir erheben nicht den Anspruch, dass Vergleichbares in allen Kirchen geschehen sollte oder müsste. Aber wir sehen unseren Weg als „eine“ Möglichkeit, dem Geist Gottes durch die Zeit zu folgen.
Lesekultur
Die „Kirche der Bücher“ ist ein Beitrag, die Lesekultur im Land zu stärken – wozu auch das `Zuhören können´, `Nach-denken´ und `Miteinander reden´ gehört. Dabei sind wir uns der Tatsache bewusst, dass Bücher selbst – wie auch die Kirche – ein angeschlagenes Medium sind. Zwar wächst die Zahl der Publikationen, aber die Lesebereitschaft vieler Menschen nimmt ab.
Das Bücherlesen hat jedoch ganz eigene Qualitäten, die von anderen Medien kaum ersetzt werden können. In Büchern entwickelt sich ein Gedankenfaden Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Die Konsequenz und Geduld, die zum Lesen erforderlich sind, sind auch eine Schule des Denkens. Und eine Grundlage zur kritikfähigen Teilhabe an einer freiheitlichen Gesellschaft.
Der Politologe Herfried Münkler beschreibt, was auf dem Spiel steht: „Die neuzeitliche Demokratie ist ab dem späten 18. Jahrhundert entstanden in dem, was der Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan die Gutenberg-Galaxis genannt
hat. Mit dem Buch als Wissensspeicher, der Zeitschrift als Diskussionsforum und der Zeitung als kurzfristigem Beobachtungsmedium, und alle drei von der Redaktion bis zum Lektor kuratiert.
Nun bricht die Medienwelt um:
Es gibt eine ungeheure Beschleunigung der Kommunikationsvorgänge und den Wegfall des Kuratierten, bis hin zu dem, was man seit Donald Trump eine postfaktische Welt nennt. Das schlägt auf die Grundlagen der Demokratie durch, in der
die Partizipierenden in der Lage sein sollten, erstens zwischen Sein und Schein zu unterscheiden und zweitens ein gewisses Erfahrungswissen zu haben, aus dem heraus sie Zukunft antizipieren und sich dazu verhalten können …
Man kann nicht sicher sein, ob die Demokratie diesen Wechsel der Kommunikations- und Medienkultur wirklich unbeschadet überstehen wird.“
(Herfried Müenkler „Die fetten Jahre sind vorbei“ – Interview in
www.trend.at vom 11.Juni 2024)
Vielleicht werden die Bücherverbrennungen früherer Autokratien, wie sie Ray Bradbury in seinem Roman „Fahrenheit 451“ als dystopisches Zukunftsszenario beschreibt, gar nicht mehr nötig sein – wenn die Menschheit den Zugang zum Lesen verliert und sich mit Memes oder anderen Kürzest-Nachrichten abspeisen lässt. Der Effekt wäre derselbe.
„Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ (Heinrich Heine: „Almansor“, 1823)
Bücher für Kids (Lesekompetenz)
Mit ein, zwei Veranstaltungen im Jahr wendet sich die “Kirche der Bücher“ direkt an Kinder und deren Eltern – und sucht dabei den Schulterschluss mit schulischen Partnern.
Kindern sind heute viele Geschichten vom Bildschirm oder aus dem Kino bekannt. Und zweifellos ist das Medium Film ein phantastischer Geschichtenerzähler. Aber wie jede*r weiß, der die Verfilmung eines zuvor gelesenen Buches gesehen hat, versorgen uns Filme stets mit „vor-gesehenen“ Bildern und schränken die eigene Phantasie ein, die beim Leben oder Hören entstehen kann.
Da es in vielen Familien nicht üblich ist, sich gegenseitig vorzulesen, können wir das in der „Kirche der Bücher“ gemeinsam tun. Der besondere Rahmen, sich zu einer festen Zeit an einem besonderen Ort einzufinden, und der performative Charakter einer „Lesung mit Musik“ schaffen eine dichte Atmosphäre, die ein konzentriertes Zuhören ermöglicht.
Das Engagement der „Kirche der Bücher“ zur Förderung der Lesefähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern, hat einen ernsten Hintergrund:
Die aktuelle IGLU-Studie, ein internationaler Langzeitvergleich zur Lesekompetenz von Viertklässlern, der alle fünf Jahre erscheint, hat gezeigt, dass eine wachsende Zahl von Kindern in Deutschland immer schlechter lesen kann. Etwa
ein Viertel aller Kinder kann am Ende der Grundschulzeit Texte nicht „sinnerfassend“ wahrnehmen. Dieser Rückgang ist alarmierend, da Lesen eine Kernkompetenz darstellt, die Auswirkungen auf alle anderen Schulfächer hat sowie auf
die gesellschaftliche Teilhabe insgesamt.
Religion als Poesie (eine theoretische Grundlegung)
„Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens noch ungestört wird predigen lassen.“ schreibt Gotthold Ephraim Lessing, als der Hamburger Hauptpastor Goetze ein Publikationsverbot gegen ihn erwirkt hatte. Das Ergebnis ist das Theaterstück „Nathan der Weise“ – das Manifest religiöser Toleranz.
Es mag befremdlich klingen, aber der Gottesdienst ist ein Medium. Christliche Theologen haben einst biblische Symbole und andere Elemente zu einem gigantischen Gesamtkunstwerk verbunden, in das Dichtung, Musik, Bilder, Architektur,
Zeit- und Raumordnung, Kleidung, Essen, Körperhaltungen und -bewegungen und sogar der Geruchssinn einbezogen wurden. Über viele Jahrhunderte hat die liturgische Messe die abendländische Gesellschaft zusammengehalten. Auch die Reformatoren
haben den Gottesdienst als Medium genutzt, für eine pädagogischen Umorientierung der Menschen, weshalb dem evangelischen Feiern bis heute ein sehr lehrhafter Charakter anhaftet.
Diese zentralere Rolle hat der Gottesdienst nicht mehr; andere Medien nehmen längst eine viel bedeutendere Stellung ein. Und: „Das Medium ist die Botschaft.“ (Marshall Mc Luhan)
Der Bedeutungsverlust der kirchlichen Rituale in unserem post-konfessionellen Zeitalter ist in mancher Hinsicht schade, aber auch befreiend. Denn religiöse Symbole sind ursprünglich poetische Formen und nicht dazu geeignet, in festgefügte Gedankengebäude eingebunden zu werden. Symbole sind mit ihrem Bedeutungshof zwar nicht beliebig, aber doch vielschichtig und entziehen sich jeder definitorischen Schärfe. Versuche, sie für ein dogmatisches System eineindeutig festzulegen, bedeutet, ihre Lebendigkeit zugunsten von Machtinteressen zu opfern.
Insofern können wir heute freier mit liturgischen Formen umgehen und entdecken wieder ihre ursprüngliche Verwandtschaft mit den literarischen Grundformen: Epik, Lyrik und Drama.
Lesungen aus der Bibel sind die Grundlage eines jeden Gottesdienstes. Die Bibel ist ein Buch – und biblische Geschichten sind Erzählungen. Gegenwärtig sprechen wir gern von Narrativen, wenn eine Erzählung eine hohe Plausibiliät
gewinnt und so verbindende Kraft entwickelt.
Genau das können biblische Geschichten, aber auch andere Erzählungen wie etwa Lessings „Nathan“ leisten. Doch dazu muss man sie „aus dem Regal holen“ und ihre Worte durch Sprechen und mit Musik zum Leben erwecken. Erst durch diese
Performanz (Aufführung) können die Worte für die Hörer zu einem bewegenden, bewusstseins- und evtl. auch handlungsverändernden Erlebnis werden.
Gebete sind die andere liturgische Grundform. Gottesdienst ist nichts anderes, „als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.“ Auf diese Weise beschrieb Martin Luther 1544 das Wesen des evangelischen Gottesdienstes.
Gebete sind ein Ausdruck innerer Stimmungen, mal klagend, mal bittend, dankend oder einfach die Wirklichkeit beschreibend. Meist sind Gebete in einer „gehobenen“, in jedem Fall verdichteten Sprache gehalten. Gebete sind also „Ge-dichte“. Und „Gedichte sind magische Gebrauchsartikel“ – das konnte die Autorin Hilde Domin sogar von ganz unliturgischen Texten sagen. Auch hier begegnet wieder die Notwendigkeit der Performanz: Worte müssen ausgesprochen, wiederholt, gepflegt, geübt werden, um ihre Wirksamkeit zu entfalten. Und: Wer singt, betet doppelt. Musik lässt aus Gedichten Lieder werden, gibt ihnen eine emotionale Tiefe und eine durchdringende Körperlichkeit, die über das bloß Bewusste hinausgeht.
Feste sind letztlich nur die dramatische Ausformungen einer Fest-Erzählung. Die besondere Bedeutung der Erzählung begründet die gesteigerte Kreativität, die für die Inszenierung aufgewendet wird. Alle Register des Theatralischen wurden bei liturgischen Gestaltungen seit jeher herangezogen. So kann man z.B. am Karfreitag aufwendig eine konzertante Passion aufführen, einen Kreuzweg abschreiten oder auch nur einfach die Passionsgeschichte lesen. Eine Eigenart liturgischer Dramatisierungen ist, dass sie nicht auf außenstehende Betrachtung (Show), sondern interaktive Teilnahme angelegt sind. Das setzt allerdings voraus, dass Besucher*innen eine gewisse Vertrautheit mit den zu erwartenden Abläufen und Bereitschaft zur aktiven Teilnahme mitbringen, was immer weniger gegeben ist.
Kulturkirche im ländlichen Raum
In der romanischen Klosterkirche im benachbarten Ort Lippoldsberg, der Muttergemeinde des Filialdorfes Gewissenruh, finden seit mehr als zwei Jahrzehnten regelmäßig Kulturveranstaltungen statt, die ein fester Bestandteil der kirchlichen Lebens in der Region sind.
Nun beschreiten wir auch in dem kleinen Dorf Gewissenruh den Weg zu einer Kulturkirche, wie es sie v.a. in städtischen Kontexten inzwischen häufiger gibt (z.B. Karlskirche in Kassel oder St. Johannis in Göttingen). Auch gibt es Kirchengemeinden, die in ihren sakralen Räumen Bücherregale haben oder zu Literatur-Gottesdiensten einladen. Aber ein konsequent auf die Sparte Literatur ausgerichtetes Konzept einer „Kirche der Bücher“, dürfte, zumal in einem ländlichen Umfeld, derzeit einzigartig sein.
Veranstaltungs-Formate
Ø LESUNGEN MIT MUSIK:
Die Präsentation von literarischen Texten, gerahmt und gegliedert durch entsprechende Life-Musik, wird das geläufigste Veranstaltungsformat bleiben. Bücher können innerhalb einer etwa 75-minütigen Veranstaltung natürlich nur in
Auszügen dargestellt werden. Dabei ist jeweils zu entscheiden, ob die Lesung einen Überblick über die gesamte Erzählung oder nur einen atmosphärischen Einblick geben soll – ohne zu „spoilern“. Die Bücher bleiben zum Ausleihen in
der Kirche
Ø AUTOR*INNEN-LESUNGEN:
Wenn eine Autorin oder ein Autor selbst aus dem eigenen Werk vorliest, ist das sicher ein Highlight. Aber die Organisation ist in der Regel aufwendig und mit hohem finanziellen Einsatz verbunden. Von kann die „Kirche der Bücher“
solche Veranstaltungen nur mit Hilfe von Förder-Partnern realisieren.
Ø BUCHBESPRECHUNGEN:
Ein Buch, das vielleicht erst kürzlich erschienen oder aus einem anderen Grund gerade aktuell ist, wird vorgestellt und kommentiert.
Ø PODIUMSDIALOGE:
Mehrere Personen stellen jeweils ein Buch vor, das ihnen persönlich wichtig ist. Sie erzählen kurz den Inhalt, schildern, was ihr Interesse geweckt hat, und antworten auf Nachfragen der anderen.
Ø FILMVORFÜHRUNGEN:
Filme sind eine moderne Form des Geschichtenerzählens. Vor allem in der dunklen Jahreszeit haben Kinoabende in der Waldenserkirche Gewissenruh Tradition.
Ø CATERING:
Seit vielen Jahren ist das kirchliche Lebens in Gewissenruh stets mit einem anschließenden kleinen Steh-Imbiss verbunden.